Der europäische Gerichtshof hat in der Entscheidung „Towercast“, Rechtssache C-449/21, bestätigt, dass die Missbrauchskontrolle des Art. 102 AEUV neben der Fusionskontrolle anwendbar ist, jedenfalls, wenn die Fusion die Umsatzschwellen nicht erreicht hat. Damit steigt die Rechtsunsicherheit bei marktbeherrschenden Unternehmen, aber auch die Möglichkeiten für Dritte, diese Zusammenschlüsse anzugreifen. Dieser Blogbeitrag zeigt die wesentlichen Folgen für die Praxis von Unternehmensübernahmen auf.

Hintergrund.

Auf dem Markt für terrestrische Fernsehübertragung übernahm Télédiffusion de France (TDF) den Wettbewerber Itas im Oktober 2016. Bei der Fusion wurden weder nationale noch die Umsatzschwellen der EU-Fusionskontrolle erreicht. Obwohl die Fusion nicht der Fusionskontrolle unterlag, erhob der Wettbewerber Towercast im November 2017 Beschwerde vor der französischen Kartellbehörde. Zur Begründung führte Towercast aus, dass die Fusion die marktbeherrschende Stellung von TDF wesentlich verstärke und es sich um missbräuchliches Verhalten von TDF handele. Die französische Kartellbehörde stellte das Verfahren 2020 ein, da Art. 102 AEUV nicht neben der Fusionskontrollverordnung anzuwenden sei.

Hiergegen erhob Towercast Rechtsbeschwerde vor dem Cour d‘ Appel de Paris. Dieser legte dem europäischen Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens die Frage vor, ob die französische Kartellbehörde auf der Grundlage von Art. 102 AEUV eine Fusion nachträglich verbieten kann, wenn die Umsatzschwellen nicht erreicht sind.

Entscheidung des EuGH.

Der europäische Gerichtshof kommt in seiner Entscheidung vom 16. März 2023 zum Schluss, dass eine nachträgliche Kontrolle der Fusion im Rahmen der Missbrauchskontrolle nach Art. 102 AEUV möglich ist.

Zur Begründung hat der EuGH ausgeführt, dass die Fusionskontrollverordnung als sekundäres Europarecht die Anwendbarkeit von Art. 102 AEUV nicht ausschließen könne. Darüber hinaus sei die Aufzählung der Verhaltensweisen in Art. 102 AEUV nicht abschließend und könne auch Fusionen umfassen.

Auswirkung auf die Praxis.

Das Urteil stellt eine Abwendung von der derzeitigen Praxis der Fusionskontrolle dar. Seit „Continental Can“ (C 6/72) fand eine Fusionskontrolle ausschließlich ex ante statt. Durch die Entscheidung hat der EuGH den Kartellbehörden die Möglichkeit eröffnet Fusionen auch ex post einer Kontrolle zu unterziehen.

Die praktischen Auswirkungen der Entscheidung haben sich binnen weniger als einer Woche nach dem Urteil bereits gezeigt: unter Bezug auf das EuGH-Urteil hat die belgische Kartellbehörde ein Missbrauchskontrollverfahren gegen den belgischen Telefon- und Internetanbieter Proximus wegen der Übernahme von edpnet eingeleitet. Es ist damit zu rechnen, dass auch in Zukunft nationale Kartellbehörden die Entscheidung in ihrer Praxis berücksichtigen werden und vermehrt Fusionen auch nachträglich kontrollieren werden.

Dementsprechend sollte bei Übernahmen durch marktbeherrschende Unternehmen immer auch eine Risikoeinschätzung anhand des Verbots des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung nach Art. 102 AEUV erfolgen. Auch wenn die Fusion unter den Schwellenwerten bleibt, liegt damit keine Garantie mehr vor, dass einzelne Kartellbehörden diese nicht aufgreifen können.

Die Entscheidung des EuGH bietet damit zugleich auch die Chance für Wettbewerber und Dritte nachträglich gegen die Fusion eines marktbeherrschenden Unternehmens vorzugehen, obwohl die Umsatzschwellen nicht erreicht wurden. Dies kann entweder mittels Beschwerde bei den Kartellbehörden oder mittels Durchsetzung zivilkartellrechtlicher Ansprüche auf Beseitigung bzw. Schadensersatz geschehen.

Die Entscheidung hat damit weitreichende Konsequenzen für die Fusionskontrollpraxis bei marktbeherrschenden Unternehmen. Bei Fragen zum Thema Unternehmensübernahmen und Fusionskontrolle sprechen Sie uns jederzeit gerne an.